Samstag, 2. Februar 2013

Esra

Ein letztes Mal überprüfte Esra, ob seine Haare fest genug zusammengebunden waren, und zog sich die Kapuze seines Umhangs tief in die Stirn. Er konnte nicht riskieren, dass sich auch nur eine Strähne aus seinem Zopf löste und ihm ins Gesicht fiel. Er hasste sie, diese verräterischen Haare mit der falschen Farbe, die ihn immer wieder als Außenseiter brandmarkten. Seine Augen konnte er noch verbergen, indem er seinen Blick immer stur gen Boden richtete, aber seine Haare machten es ihm schwer, unerkannt zu bleiben. Sie hatten ihm verboten, sie zu schneiden und inzwischen waren sie länger als die Haare der meisten Frauen, die er kannte. Und das alles nur, um ihn zu demütigen.
Ja, er hasste seine Haare und alle anderen hassten sie auch. Noch nie hatte er ein Kompliment für seine Haare bekommen, auch wenn sie gesund und gut gepflegt waren, immer hatte er für sie nur Verachtung erfahren, meist nur in Form von Beleidigungen oder oft genug auch in Form von Schlägen. Und das alles nur, weil sie die falsche Farbe hatten. Sie waren weiß. Weiß wie frisch gefallener Schnee, durch den noch niemand hindurchgegangen war. Doch fast noch schlimmer als seine Haare waren seine Augen, rot wie Blut, rot wie die Augen eines Dämons. Warum gerade er so absonderlich aussah, wusste er nicht, wusste niemand, aber alle verabscheuten ihn dafür, nicht zuletzt er selbst. 
Seine Hand legte sich langsam auf die Türklinke. Eine Hand, fast ebenso weiß wie sein Haar. Als wäre er nicht das Kind zweier Menschen, sondern das Kind von Schnee und Blut. Zögernd drückte er die Klinke herunter, blickte in das innere das Gebäudes und bemerkte erleichtert, dass es bis auf eine ältere Dame, die tief in ihr Gebet versunken war, vollkommen leer war. Leise schlich er hinein und schloss die Tür hinter sich. Mit gesenktem Haupt ging er an der alten Frau vorbei und kniete sich hin, um zu warten bis diese die Kirche verließ. 
Esra war es nicht erlaubt, eine Kirche zu betreten, denn eine Kirche war heiliger Boden, und er, er war nichts weiter als eine Missgeburt, Abschaum, eine Laune der Natur, ein unreines, dämonisches Wesen. Dabei ging er so gern in die Kirche und lauschte den Priestern bei ihren Predigten von Gott, der alle seine Kinder liebte, der gnädig war und denen, die Reue zeigten, ihre Sünden vergab. Doch wie sehr sich die Institution Kirche von diesem Gott abgewendet hatte, war ihm mehr als nur deutlich bewusst. So gerne würde er Priester werden und die alten, von Korruption durchzogenen Hierarchien der Religionsobersten reformieren, aber das war nichts weiter als ein Traum. Es würde nie soweit kommen, nie. 
Es war paradox...einfach nur paradox. Esra schüttelte den Kopf. Nein, er war nicht hierher gekommen um nun in trüben Gedanken zu versinken, er war hergekommen um zu beten. Auf seine Art zu beten: 
„Ich weiß nicht ob Du es hören willst 
und ob es Dich auch gibt 
Ich weiß nicht ob so ein Gott auch 
Außenseiter wie mich liebt 
Ausgestoßen und geächtet 
gehören wir nicht dazu 
doch ich seh in deinen Augen 
ausgestoßen warst auch Du
Gott deine Kinder flehen Dich an 
Zeige die Gnade 
die sie nie gekannt 
gib ihnen Kraft diese Welt zu verstehen 
Gott deine Kinder 
sie wollen Dich sehen 
Gott ich verlange gar nichts für mich 
doch ich kenn' so viele 
viel ärmer als ich 
Hungrig, verachtet, verhasst, schikaniert 
hast Du vergessen 
wir hängen an Dir 
Gott deine Kinder 
hängen an Dir.“ 
Esra hatte eine schöne Stimme. Sie war das einzige an ihm, für das ihn je jemand gelobt hatte, von vielen sogar, aber auch nur, wenn sie ihn nicht gesehen hatten. Es war zum verrückt werden.

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